Das Märchenhaus am Nikischplatz: Ein Leipziger Juwel des Jugendstils
Ein Meisterwerk des Jugendstils und seine reiche Geschichte
Das Märchenhaus war ein prächtiges Wohnhaus im Jugendstil, das von 1907 bis 1943 in der westlichen Vorstadt Leipzigs, dem heutigen Zentrum-Süd, stand. Es erhielt seinen Namen aufgrund der kunstvoll gestalteten Fassade, die mit reichhaltigen Bilddarstellungen verziert war. Diese beeindruckenden Verzierungen machten das Gebäude schnell bekannt und gaben ihm schon bald den inoffiziellen Namen „Märchenhaus“, der bereits 1910 offiziell im Leipziger Adressbuch auftauchte. Dieses besondere Bauwerk stand an der Einmündung der Thomasiusstraße, am späteren Nikischplatz, und prägte das Stadtbild der Gegend für fast vier Jahrzehnte.
Das Märchenhaus wurde zwischen 1905 und 1907 von dem Leipziger Architekten Raymund Brachmann entworfen und errichtet, der zugleich auch der Besitzer des Anwesens war. Das Gebäude entstand auf dem ehemaligen Gelände des Lehmannschen Gartens, das Ende des 19. Jahrhunderts in der westlichen Vorstadt bebaut wurde. Gegenüber dem Märchenhaus stand das bereits 1899/1900 errichtete Künstlerhaus, ein weiterer bedeutender Bau der Gegend.
Das Märchenhaus war nicht nur durch seine Architektur bekannt, sondern auch durch seine Bewohner. Im Dachgeschoss, das als Atelier genutzt wurde, lebten und arbeiteten namhafte Künstler. Zu den frühesten Mietern gehörten unter anderem die Maler Otto Richard Bossert, Paul Horst-Schulze und Hugo Steiner-Prag, die bis 1912 dort wirkten. In den folgenden Jahren zogen zwei bedeutende Künstler des 20. Jahrhunderts ein: der Expressionist Rüdiger Berlit und der Impressionist Eduard Einschlag. Diese beiden Künstler lebten und arbeiteten über 25 Jahre lang Tür an Tür, was das Märchenhaus zu einem künstlerischen Zentrum machte.
Ein weiterer prominenter Bewohner des Hauses war der berühmte Dirigent Arthur Nikisch, der in der dritten Etage bis zu seinem Tod im Jahr 1922 lebte. Ihm zu Ehren wurde der Platz vor dem Märchenhaus noch im selben Jahr in Nikischplatz umbenannt.
Die Zerstörung des Märchenhauses und die vergeblichen Wiederaufbaubemühungen
Am 4. Dezember 1943, während eines verheerenden Luftangriffs auf Leipzig, wurde auch das Märchenhaus schwer beschädigt. Es brannte vollständig aus, jedoch blieb die Grundstruktur des Gebäudes erhalten. Der Architekt und Besitzer Raymund Brachmann versuchte in den Nachkriegsjahren, die Ruine wiederaufzubauen. Er kämpfte mehrere Jahre lang mit den städtischen Behörden um die Genehmigung, zumindest eine Wiederherstellung des Gebäudes mit reduzierter Stockwerkzahl zu erreichen. Trotz der statischen Integrität der Ruine wurden seine Bemühungen letztlich nicht belohnt, und im Herbst 1951 begann der endgültige Abbruch des Märchenhauses.
Für mehr als 35 Jahre blieb die Lücke am Nikischplatz unbebaut, und erst Ende der 1980er Jahre wurde der Platz durch Plattenbauten der WBS-70-Serie gefüllt. Diese Neubauten wurden durch die Verwendung von Steildächern stilistisch leicht an die umliegenden Altbauten angepasst, doch der ursprüngliche Charakter und die Pracht des Märchenhauses konnten nicht ersetzt werden.
Die märchenhafte Architektur: Kunst in Stein gemeißelt
Das Märchenhaus war ein viergeschossiges Gebäude mit einem L-förmigen Grundriss, das durch seine detailreiche und künstlerisch wertvolle Fassade auffiel. Die Fassade war in verschiedene Ebenen unterteilt, die mit kunstvollen Erkern und Balkonen gegliedert waren. Besonders beeindruckend war ein Band aus blaugrünen glasierten Terrakottafliesen, das den Fensterbrüstungsbereich des ersten Obergeschosses schmückte.
Ein herausragendes Merkmal der Fassade waren die Keramikreliefs, die auf den Erkern angebracht waren. Diese Reliefs wurden vom Leipziger Bildhauer Johannes Hartmann geschaffen und stellten bekannte Persönlichkeiten des Leipziger Kulturlebens dar. Zu den abgebildeten Figuren gehörte der berühmte Cellist Julius Klengel, der mit seinem Instrument dargestellt wurde, sowie der Architekt des Hauses, Raymund Brachmann, der mit einem Bauplan abgebildet war. Alle diese Persönlichkeiten waren Mitglieder des von Max Klinger im gegenüberliegenden Künstlerhaus gegründeten Kegelvereins „Freitagskegelei“. Die oberen Etagen des Gebäudes zeigten zusätzlich biblische Szenen sowie historische Darstellungen aus der Geschichte der Stadt Leipzig.
Weitere künstlerische Details des Märchenhauses waren die Balkone, deren Brüstungen aus vergoldeten schmiedeeisernen Gittern bestanden. Der hohe Giebel, der mit sächsischem Glimmerschiefer verkleidet war, rundete das kunstvolle Erscheinungsbild des Hauses ab. Besonders auffällig waren die zwölf vollplastisch ausgearbeiteten Fratzenköpfe, die in die Fassade integriert waren und dem Haus sein märchenhaftes Aussehen verliehen.
Moderne Innovationen und großzügige Wohnungen
Obwohl das Märchenhaus durch seine kunstvolle Architektur bestach, war es gleichzeitig auch technisch innovativ. Trotz der großen Geschossfläche von 750 m² waren in jeder Etage lediglich zwei geräumige Wohnungen vorgesehen, die für eine exklusive Wohnqualität sorgten. Das Treppenhaus des Gebäudes war durch einen kleinen Lichthof erhellt, was für viel natürliches Licht sorgte. Zudem war das Märchenhaus eines der ersten Wohnhäuser in Leipzig, das mit einem Personenaufzug ausgestattet war, was zu dieser Zeit eine bemerkenswerte technische Errungenschaft darstellte.
Fazit
Das Märchenhaus war ein architektonisches und künstlerisches Meisterwerk des Jugendstils in Leipzig. Seine kunstvolle Fassade mit bildlichen Darstellungen, die prominenten Künstler und Persönlichkeiten, die darin lebten, sowie die technische Innovation machten das Gebäude zu einem besonderen Wahrzeichen der Stadt. Obwohl es im Zweiten Weltkrieg zerstört und später abgerissen wurde, bleibt das Märchenhaus ein unvergessenes Symbol für die kreative und kulturelle Blütezeit Leipzigs. Sein Verlust hinterließ eine Lücke, die bis heute in der Geschichte der Stadt spürbar ist.